Die Menschheit braucht ihre Illusion, und auf keinen Fall darf da irgendeine Entzauberung stattfinden – ab dann wirds ungemütlich. Selbst wenn man nicht wie der Schriftsteller Charles Bukowski, der von der anderen Seite des großen Teichs kommt, gleich im ganzen Leben eine durch Alkoholmangel hervorgerufene Illusion sieht, lässt sich der Illusionsversuch spätestens im Privatfernsehens-Vorabendprogramm nicht mehr leugnen. Wo dann gleich echte Einsatzkräfte auf Basis von echten Fällen handeln, und dann eine geschlagene Stunde Tatütata, Tränendrüsenstimulation und künstliche Stressübertragung auf den Zuschauer folgen. Dass die Einsatzkräfte echt sind, mag sein, immerhin kann man sie theoretisch anfassen; es sind ja keine Computeranimationen. Das sie auch nur annährend im realen Fall verwickelt waren, ist nicht bestätigt; ebensowenig dass der Drehbuchautor nicht die Basis des Falls als Einladung empfunden hat, bildlich gesprochen einen sehr überhängenden Aufbau zu erschaffen. Anders ausgedrückt: Wenn die Autobahnpolizei anrückt, um Verletzte zu finden, heißt das ja noch lange nicht, dass es den Überschlag des Autos wirklich gab, sondern lediglich, dass in der ganzen Geschichte eine wahre Basis (Verletzte auf der Autobahn) ist. Vielleicht war das Opfer auch tot, und die Reanimation fand nie statt, alles lief vielleicht ganz ohne Stress. Oder waren viel mehr Teilnehmer verwickelt, aber das gab die Schauspielermenge nicht her. Was auch immer dem Autor als Vorlage gedient hat, er verstand es gut, die Illusion zu erzeugen, sein Werk sei die Realität. Von der omnipräsenten Kamera, die selbst bei wildesten Schlägereien unter vermeintlichem Drogeneinfluss nie angegangen wird, sprechen wir lieber nicht erst. Mit anderen Worten: “echte Einsatzkräfte auf Basis echter Fälle” sagt im Grunde erstmal gar nichts über die Realität der dargestellten Handlungen aus.
Genug Privatfernsehen, nicht nur die mögen diese Gedankenschauspiele. Die Realität abseits der Mattscheibe kann das ausreichend gut, wie die hohen Verkaufzahlen von Konzertkarten bezeugen. Warum? Weil es meiner Meinung nach nirgends so viel Schizophrenie und Illusion gibt, wie auf und an Bühnen, oder Parlamenten. Bei letzteren gelingt der Versuch allerdings zunehmend eher mäßig; die aktuelle politische Lage (“Politikverdrossenheit”) ist weniger von Vertrauensvorschüssen als von schulterzuckender Ignoranz geprägt. Mentale Firewall, sonst wird man mit der ganzen Nachrichtenlage zur Furie.
Zurück zur Bühne. Ich bin selbst seit einer ganzen Weile an einem Theater mitwirkend, maßgeblich in den technischen Bereichen tätig, darf also etwas (zu viel?) von dem Leben um die Bühne erleben. Und um gleich mit Gemeinheiten für Theaterliebhaber zu beginnen, hier die erste Aussage von mir: Die langweiligste Zeitspanne am Theater ist die, in der das Publikum im Saal ist und gespielt wird. Denn was da passiert, ist bis auf wenige Ausnahmen streng nach Buch und zig-fach sichtbar. Gehen Sie einfach fünfzehn Mal in das selbe Stück – vielleicht fallen Ihnen geringfügige Unterschiede auf, aber im Grundsatz bleibt die Handlung identisch. Da Zuschauer das Stück meist aber nur einmal sehen, ist die Illusion perfekt: nur die Bühne ist beleuchtet, und diese Beleuchtung so angelegt, dass sie mit Lichtfarben und Richtung die Blicke lenkt beziehungsweise Stimmungen erzeugt. Ganz simpel nachzumachen, mit zwei einfachen Experimenten: Stellen Sie sich ein grellgrün beleuchtetes Bordell vor – passt nicht? Genau. Und Nummer zwei: Dunkeln Sie den Raum ab, stellen Sie sich vor einen Spiegel und beleuchten Sie ihr Gesicht, indem Sie eine Taschenlampe unter Ihr Kinn halten, die gerade nach oben leuchtet. Wirkt gespenstisch – sollten Sie für gewöhnlich nicht furchterregend aussehen, haben Sie nur mit einer einfach Änderung der Lichtrichtung eine völlig neue Stimmung erzeugt. Dafür sind meist am Theater Techniker verantwortlich, die in Abstimmung mit der Regie das Licht entsprechend anpassen und vor jeder Vorstellung einrichten, damit soetwas wie eine Atmosphäre entsteht und sich der Zuschauer nur auf das Loch in der Wand konzentriert, in welchem die Schauspieler stehen.
Genau diesen Prozess erleben Sie aber zum Glück nicht, denn dort ist dann die Romantik von der Bühne ganz weit weg, das komplette Theater eigentlich entzaubert. Auf einmal würden Neonlicht, Kaffee, dreckige Kabel, Starkstrom, Leitern, Sarkasmus und sehr eigensinniger Humor eine Mischung mit unemotionalen, kalten Stahlgestängen bilden, welche mit aufwendig bemalter, sichtbarer Bühnendekoration nicht mehr so viel zu tun haben. Deswegen wird viel darein gesetzt, dass Sie das nicht sehen. Ach ja, und den ganzen Staub natürlich auch nicht. Hauptsache, die Illusion in der Blickrichtung der Zuschauer funktioniert, ganz egal, ob die Techniker, die sowieso das Textbuch vor sich haben, nebenbei noch ganz andere Sachen machen – und das tun Sie. Das weiß ich von Anderen. (und mir selbst.)
Lässt sich damit die Behauptung aufstellen, der Mensch wolle betrogen werden? Der Duden sagt, Betrug sei eine bewusste Täuschung. Nicht abwegig, denn immerhin gehen genug Zuschauer, die irgendeine “Hinter-den-Kulissen”-Führung erlebt haben, trotzdem noch ins Theater. Dort erlebt man ja auch nicht den Erschaffungsprozess eines Stückes mit aller Diskussion, Streit und Zeitdruck, sondern nur einen Blick von hinten auf alles. Wären alle Mitarbeiter bei einer solchen Führung anwesend und in Hochform arbeitend, besteht unter Umständen das Potential, unschöne Erinnerungen herauszutragen. Nicht, dass das immer so wäre, aber durchaus auch kein Sonderfall. Theater ist keine Meditationsübung, sondern meist wirklich Arbeit, inklusive Stress. Das ist eigentlich bekannt, zumindest grob, und trotzdem gehen immer noch Zuschauer ins Theater. In meinen Augen sind das drei Gattungen:
- Der Kulturfreund. Geht aus Interesse ins Theater, will das Stück wirklich sehen, sich der Illusion hingeben, auf das Stück achten. Alles passiert aus freien Stücken, Zwang oder Druck bestehen nicht. Sieht darin seinen Zeitvertreib.
- Der Imageprofilierer. Geht ins Theater, die Oper oder was auch immer, weil es zum guten Ton gehört, er sich dadurch intelligenter und gebildeter fühlt oder es aus anderen Gründen für nötig befindet, einer solchen Vorstellung beizuwohnen. Betritt das Theater mehr aus unsichtbarem, sozialen Druck, der möglicherweise selbstgemacht ist. Seltener in Komödien zu finden, aber auch dort von Zeit zu Zeit vertreten. Manchmal ein bisschen steif im Verhalten.
- Der Mitgenommene. Geht wider besseren Wollens wegen einer Person des Typs 1, 2 oder aufgrund des Lehrplans ins Theater. Und ist meist als Erster wieder weg.
Aber es scheint zu helfen. Während der signifikante Anteil der Theaterbesucher im Leben außerhalb dieses abgedunkelten Raumes genug mit Stress, Verantwortung unc Verpflichtungen eingedeckt sein dürfte, ist das auf einmal im Theater ganz weit weg: neue Handlung, andere Realität, beengte Gedankengänge, ohne das negativ aufzufassen. Da wirkt die Pause schon fast wie ein Bruch der Handlung. Sollte man dem zahlenden, sich abwenden wollenden Zuschauer denn überhaupt irgendeine Illusion nehmen wollen? Wäre das nicht der Vederb der gesamten Wirtschaft hinter der Kulturbranche?
Das Theater hat sich mit diesem Betrug etabliert, eine Stellung in der Gesellschaft, und man kann ihm nicht absprechen, dass es eine Form des “guten” Betrugs ist. Man kann ihm entkommen, wenn man das möchte, solange man nicht aktiv daran beteiligt ist. Theoretisch müsste man das beim Fernsehen auch können, wenngleich es dort aber vielen schwerer fällt. Dieser Kasten mit den bunten Bildern ist ein Multiplikator, und vermischt Realität mit Scheinrealität, Wahrheiten mit alternativen Wahrheiten. Auf einmal ist die Bühne nicht mehr zu sehen, und manches ist tatsächlich real, und manches eben auch nicht. Die Grenze zu ziehen fällt zunehmend schwerer, da genauer der hierfür benötigte kritische Blick nirgends wirklich mehr gelehrt wird.
Bestes Beispiel für dieses Problem: das Vorabendprogramm der Privatsender. Die sogenannte Scripted Reality, also die geschriebene Realität, erfüllt nach Ansicht einiger Medienwahrnehmer relativ exakt zwei Funktionen: die einen glauben lassen, es sei tatsächlich normal so, und die anderen glauben lassen, es sei tatsächlich anders, zumindest bei den Rezipienten. Während man ersteres den unteren Bildungsschichten zuschreibt, sollen letztere vor allem gebildete Akademiker sein, welche in genau diesem Sendungstyp vornehmlich eine Art Rückversicherung sehen, eben genau so nicht zu sein, wie dort dargestellt wird – oder es zumindest hoffen.
Es ist bequem, in dieser Form der Illusion zu leben, um sich keine Gedanken über die tatsächliche, möglicherweise ungemütliche Realität machen zu müssen – und wohl oft auch legitim. Oft reicht es vollkommen, nicht alles zu hinterfragen, und in einer Art Dunkelheit zu leben, aber dafür zufriedener zu sein – wenn man das will. Die Wahrheit ist nicht immer angenehm, oder zumindest scheinbar nicht das, was sie zu sein scheint; besonders im Theater.
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